25. Juni 2024

Rechtsprechungsänderung bei fehlender oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige?

Sieht sich ein Unternehmen mit einer wirt­schaft­li­chen Kri­se konfrontiert, bleibt manchmal nur der großflächige Per­so­nal­ab­bau. Dann ist der Ar­beit­ge­ber jedoch verpflichtet, eine sog. Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige bei der zuständi­gen Agen­tur für Ar­beit zu stellen. Doch was passiert, wenn die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige ausbleibt oder fehlerhaft ist? Mit dieser Frage und den sich daraus ergebenden Konsequenzen beschäftigen sich derzeit das Bundesarbeitsgericht (BAG) und der Europäische Gerichtshof (EuGH).

Ausbleibende oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige: aktuelle Rechtsprechung

Gemäß § 17 Abs. 1 KSchG muss eine Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige bei der Agentur für Arbeit immer dann erfolgen, wenn der Ar­beit­ge­ber plant in­ner­halb von 30 Ka­len­der­ta­gen eine ge­setz­lich geregelte Zahl an Mitarbeitern zu ent­las­sen. Ne­ben Kündi­gun­gen jeg­li­cher Art kann das auch vom Arbeitgeber ver­an­lasste Auf­he­bungs­verträge beinhalten. Ab welcher Anzahl von Entlassungen eine Anzeige verpflichtend ist, hängt dabei von der Größe des Unternehmens ab. Gibt es einen Be­triebs­rat, muss mit die­sem im Vorfeld ein sog. Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren durchgeführt werden. Im Zuge der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige muss der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit u. a. folgende Angaben machen: Name, Sitz und Art des Unternehmens, Gründe für die ge­plan­ten Ent­las­sun­gen, Angaben zu den be­trof­fe­nen Mitarbeitern und die Kri­te­rien, nach denen diese ausgewählt wurden.

Bislang legen we­der das deutsche Kündigungsschutzge­setz noch das Uni­ons­recht eine zwin­gende Rechts­folge für den Fall fest, dass ein Arbeitgeber entweder gar keine oder aber eine fehlerhafte Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige stellt. Doch nach ständi­ger BAG-Recht­spre­chung stellt dies einen Ver­stoß ge­gen ein ge­setz­li­ches Ver­bot dar, das zur Un­wirk­sam­keit al­ler aus­ge­spro­che­nen Kündi­gun­gen führt. Dabei ist es irrelevant, ob tatsäch­lich in­di­vi­du­elle Kündi­gungsgründe vor­lie­gen. Eine ausbleibende oder fehlerhafte Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige führt daher bislang zu drastischen recht­li­chen sowie fi­nan­zi­el­len Kon­se­quen­zen für das kündi­gen­de Unternehmen. Das nachträgli­che Korrigieren bestehender Mängel bzw. Formfehler der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige war bis­lang nicht möglich.

VI. Senat des BAG plant Änderung seiner Rechtsprechung

Doch das könnte sich möglicherweise bald ändern. Denn laut einer Entscheidung des EuGH vom 13.07.2023 dient die Pflicht, eine Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige an die zuständige Agen­tur für Ar­beit zu stellen, nicht dem Schutz des einzelnen, gekündig­ten Ar­beit­neh­mers. Stattdessen soll dadurch gewährleistet werden, dass die Agen­tur für Ar­beit frühzei­tig informiert und in­vol­viert wird, damit sie ihre Auf­gabe, die entlassenen Mitarbeiter zu vermitteln, angemessen erfüllen kann. Dieser EuGH-Beschluss ging auf eine An­frage des VI. Se­nats des BAG vom 27.01.2022 (Az.: 6 AZR 155/21) zurück.

Aufgrund dieser EuGH-Entscheidung plant der VI. Se­nat des Bundesarbeitsgerichts nun­ eine Änderung seiner Recht­spre­chung, nach der eine fehlerhafte Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige oder das Ausbleiben einer solchen nicht automatisch zur Un­wirk­sam­keit der Kündi­gun­gen führt. Denn nach Auffassung des VI. Se­nats sei eine derart schwere Sank­tion uni­ons­recht­lich nicht ge­bo­ten.

Eine solche Änderung würde jedoch auch von der Recht­spre­chung des II. Se­nats des BAG ab­wei­chen. Daher stellte der VI. Se­nat an die­sen eine sog. Di­ver­genz­an­frage. Dabei soll geklärt werden, ob der II. Senat an sei­ner bis­he­ri­gen Recht­spre­chung fest­hal­ten möchte.

EuGH soll Fragen zur Massenentlassungsanzeige klären

Doch der II. Se­nat stimmte der neuen Rechts­auf­fas­sung des VI. Se­nats nicht vollumfänglich zu. So sei es nicht mit Uni­ons­recht ver­ein­bar, dass eine fehlende oder fehlerhafte Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige keine rechtlichen Auswirkungen auf die Be­en­di­gung der gekündig­ten Ar­beits­verhält­nisse haben solle. Zwar müss­ten die aus­ge­spro­chenen Kündi­gun­gen nicht zwingend unwirksam sein – so könnte deren Rechtmäßigkeit etwa durch die nachträgliche ord­nungs­gemäße An­zeige bei der Agen­tur für Ar­beit wiederhergestellt wer­den. Man müsse dabei jedoch unterscheiden, ob lediglich eine feh­ler­hafte An­zeige gestellt wurde oder gar keine.

Der II. Se­nat des BAG setzte das An­fra­ge­ver­fah­ren aus und wandte sich seinerseits an den EuGH, der diese Fra­gen nun klären soll. Zusätzlich dazu hat nun auch der VI. Se­nat des BAG den EuGH um Klärung in der weiterführenden Frage gebeten, ob der Zweck einer Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige auch dann erfüllt sei, wenn diese zwar fehlerhaft ist, aber von der Agen­tur für Ar­beit nicht be­an­stan­det wird.

Mögliche Rechtsprechungsänderung hat keinen Einfluss auf Konsultationsverfahren mit Betriebsrat

Arbeitgeber sollten jedoch beachten, dass sich eine mögliche Änderung der Recht­spre­chung nur auf die Massenentlassungsanzeige selbst be­zie­hen würde. Andere Auflagen, wie die ord­nungs­gemäße Durchführung des Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­rens mit dem Betriebsrat, sofern vorhanden, bleiben davon unberührt. So sind sich beide Senate des BAG ei­nig, dass sämtliche aus­ge­spro­che­nen Kündi­gun­gen weiterhin un­wirk­sam sind, wenn es zu Feh­lern im Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren kommt.

Das bestätigte auch der EuGH, der außerdem mit Ur­teil vom 22.02.2024 (Rs. C-589/22) klarstellte, dass der Be­triebs­rat bei Mas­sen­ent­las­sun­gen schon dann zurate gezogen werden muss, wenn der Ar­beit­ge­ber einen Personalabbau erstmals erwägt. Gleiches gilt, wenn klar wird, dass die Anzahl der Entlassungen die fest­ge­leg­ten Schwel­len­werte über­schrei­ten könnte. Die Pflicht zur Konsultation mit dem Betriebsrat besteht also schon vor der endgültigen Entscheidung des Arbeitgebers, Kündigungen auszusprechen.

Unabhängig von der möglichen Rechtsprechungsänderung haben Arbeitgeber vieles zu beachten, wenn sie einen Stellenabbau im großen Stil planen. In der Anwaltskanzlei Lenné stehen wir betroffenen Arbeitnehmern zur Seite, prüfen die Rechtmäßigkeit der Kündigung und fechten diese ggf. an. Wenn Sie von einer Massenentlassung betroffen sind, vereinbaren Sie einfach einen Termin für eine kostenlose, unverbindliche Erstberatung.

von Martina Bergmann
Martina Bergmann

Angestellte Rechtsanwältin

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